TOPOLOGIK.net   ISSN 1828-5929      Numero 4/2008


 
Reinhard Hesse

 

I Worum geht es überhaupt in der Philosophie?

II Geschichtsphilosophie und Marxismus als

unzureichende Antworten auf die philosophische Grundfrage


 

I Worum geht es überhaupt in der Philosophie?

F: Worum geht es überhaupt in der Philosophie?

A: Es geht darum, bestimmte Grundeinsichten zu gewinnen.

F: Welche?

A: Ich denke, man muß zwei Arten von Grundeinsichten unter- scheiden: solche in systematischer und solche in historischer Hinsicht.

F: Welches sind die Grundeinsichten in systematischer Hinsicht?

A: Erstens, daß es nötig ist, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Sapere aude! (Das ist zugleich auch schon das Schwerste.)

Zweitens, daß es keine Instanz außerhalb des Menschen als Gattungswesen gibt, welche ihm sagt, was Wahrheit ist, was Sinn, was gut, was böse.

Drittens, daß wir Menschen folglich aufeinander angewie- sen sind in unserer ansonsten hilflosen Suche nach Wahrheit und Moral.

Viertens, daß „Philosoph“ zu sein, heißt, „Freund der Weisheit“ zu sein, nicht ihr Besitzer. Freund aber bin ich nur so- lange ich mich bemühe.

Fünftens, daß folglich – i.S. dieses Bemühens – Erkenntnis immer offen sein muß für begründete Revision. Daß philosophische Erkenntnis,

sechstens, also den Anspruch auf Geltung (Wahrheit) ebensowenig aufgeben kann – auch nicht unter den modischen Vorzeichen „postmoderner“ Beliebigkeiten – wie sie sich in die vermeintliche Sicherheit religiöser oder sonst ideologischer Dogmen flüchten darf. (Der Anspruch auf Geltung soll ja durch eine eventuelle Revision gerade verstärkt werden.)

Siebtens schließlich, daß das im obigen Verständnis zur conditio humana notwendig gehörende schlichte Stellen einer ernsthaften Frage zugleich (im sog. performativ-pragmatischen Sinn) ein Sich-Stellen auf den Boden einer virtuell uni- versalistischen Minimalethik ist; daß also der Mensch nicht Mensch sein kann, ohne im Medium der Sprache den anderen implizit immer schon anerkannt und sich mit ihm auf ein Geflecht wechselseitiger, gleicher Rechte und Pflichten eingelassen zu haben.

F: Und in historischer Hinsicht?

A: Vor allem diese: daß die Philosophiegeschichte verstehbar ist als ein allmähliches Sichhinarbeiten, vielleicht sollte man eher sagen: als ein Sichdurchwursteln hin zu den oben skizzierten Einsichten. Man kann hierbei drei wesentliche Stufen unterscheiden: Platon, Kant, Sprachphilosophie.

Erstens: Platon, der - m.E. richtig - das dialogische, argu- mentierende Suchen in den Mittelpunkt stellt, der jedoch zu- gleich - m.E. falsch - den Dialog versteht als bloßes Mittel zur Wiederentdeckung von dialogunabhängig in einer spekulativen Ideenwelt vermeintlich existierenden, ewigen Wahrheiten.

Zweitens: Kant, der - m.E. richtig - den Schritt von der Heteronomie zur Autonomie vollzieht. Nicht mehr die Ideenwelt Platons, der transzendente Gott des Christentums oder die natur-bezogene Sinnlichkeit des Empirismus orientieren uns, wir müssen uns selbst orientieren. Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Kant, der aber zugleich – m.E. falsch – die Verstandestätigkeit im großen und ganzen als einsamen, bewußtseinsinternen Vorgang versteht. Und schließlich

drittens: die Sprachphilosophie, die ausgehend von Peirce und Wittgenstein, das bewußtseinsphilosophische Defizit aufzuarbeiten sucht und, in ihrer Apelschen transzendentalprag- matischen Fortführung, aus der notwendigen Sprachbezogen- heit menschlicher Orientierungssuche zugleich eine (aus performativ-pragmatischen Gründen) unvermeidliche ethische Grundpositionierung reflexiv herausarbeitet. Kurz gesagt: Den- ken ist auf Sprache (Kommunikation) angewiesen, und Kommu- nikation kommt nicht zustande ohne ethischen Minimalkonsens über, virtuell universalistische, gleiche Rechte und Pflichten.

Die Berufung auf Kommunikationssituationen, in denen alle Beteiligten als Freie und Gleiche unverstellt miteinander verkehren können, ist aus mindestens zwei Gründen nicht als utopisch abzutun. Erstens, weil Kommunikationssituationen die- ser Art eine wesentliche Grundlage gelingenden realen Lebens faktisch sind – vom Gespräch über die Erledigung trivialer Alltagsnotwendigkeiten im Privatleben bis zu Diskursen in öffentlichen Körperschaften, z. B. in den Parlamenten der ver- schiedenen Ebenen, die, anders als man denken mag, in ihrer Mehrzahl mit einstimmigen Beschlüssen enden. Zweitens, weil, auch wenn Freiheit und Gleichheit empirisch nur unzureichend gegeben sind, von ihnen doch immer schon als kontrafaktische Unterstellung Gebrauch gemacht werden muß. Auch der radikalste Bestreiter ist auf das Stellen ernsthafter Fragen (und seien sie nur strategischer Natur) angewiesen, auch er braucht sichere Erkenntnis (Wahrheit). Neben mangelndem guten Willen, mangelnder Einsicht und natürlich auch mangelnden Kommunikationswegen (im technischen Sinn) ist es vor allem die Ausübung von Herrschaft (Macht), die die beschriebene Idealsituation als utopisch erscheinen läßt. Das ist sie aber nicht. Sie ist eine mit jeder ernsthaft gestellten Frage not- wendigerweise immer schon gemachte Antizipation.

Je geringer die Hindernisse sind, die ihr im Wege stehen, desto leichter wird es uns gelingen, um mit Kant zu sprechen, Wahrheit zu erkennen, das Richtige zu tun und uns dabei nicht durch leere Hoffnungen narren zu lassen.

Die durch Ausübung von Herrschaft bewirkten Ver- zerrungen der Kommunkationssituation zu analysieren und Wege zu ihrer Überwindung aufzuzeigen, ist Hauptaufgabe der politischen Philosophie. Da Herrschaft insbesondere aus den ökonomischen Verhältnissen resultiert, muß politische Philosophie zugleich immer auch normative politische Ökonomie sein.

Denn Philosophie ist der Aufklärung verpflichtet und damit dem großen und ewigen Ziel der Überwindung von Herrschaft.

 

II Geschichtsphilosophie und Marxismus als unzureichende Antworten auf die philosophische Grundfrage

F: Wie lautet die Antwort der Geschichtsphilosophie auf die philosophische Grundfrage (nach der Möglichkeit von Erkenntnis)?

A: Der Name legt es schon nahe: Gesicherte Orientierung ist möglich durch Geschichte. Denn die Geschichte ist der Ort der (allmählichen Entfaltung der) Vernunft. Was Vernunft ist, können wir wissen, wenn wir auf die Geschichte schauen. „Was wirklich ist, ist auch vernünftig“, formulierte Hegel. Die einzelnen Epochen der Geschichte sind (fortschreitende) Realisierungs- stufen der Vernunft. Und wenn es oft nicht so aussieht, so ist das nur eine „List der Vernunft“; denn von einem höheren Standpunkt aus wird man sehen, daß auch die Leiden insofern einen vernünftigen Zweck haben, als sie den Menschen Anlaß geben, daraus zu lernen.

Die Geschichtsphilosophie geht nicht von der Einsicht in die Unvermeidbarkeit und Unhintergehbarkeit der transzen- dentalen Reflexion als (selbstreferentiell sich ergebendem) Ursprung der Vernunft aus. Wie Platon die Wahrheit in der Ideenwelt gefunden zu haben meinte, das Christentum im transzendenten Gott und der Empirismus in einer hypostasierten Natur, so meint Hegel, sie in der Geschichte auffinden zu können.

„Wahrheit“ kann aber nicht außerhalb des Menschen „aufgefunden“ werden; sie wird allenfalls dort „gefunden“, weil sie zuvor hineininterpretiert wurde.

Die Geschichtsphilosophie steht insofern allerdings in der Nachfolge des Kantischen transzendentalen Subjektivismus, als sie versucht, das bei Kant fehlende Ko-Subjekt durch „die Geschichte“ zu ersetzen. Indem sie das tut, mißversteht sie aber den Kantischen Vernunftbegriff und fällt wieder auf die Stufe vor-Kantischer Heteronomie zurück.

Da sie im Unterschied zu den vor-Kantischen heterono-

schen Philosophien (platonische Ideenlehre, christlicherTrans-

zendentalismus, empiristischer Naturalismus) keine ewigen Wahrheiten postuliert, sondern die sich wandelnde Geschichte als Ort der Vernunft glaubt ausmachen zu können, hat sie keine Argumente, um sich gegen ihre Selbstauflösung eben im Namen des Wandels der Geschichte zu wehren – ihr Vernunftbegriff verschwindet im Meer des Relativismus-Historismus.

Daß sie gerade die Geschichte der Menschen für den Ort hält, an dem Vernunft aufgefunden werden kann, besser: in dem sie sich konstituiert (und nicht die menschenlose Ideenwelt, die menschenlose Transzendenz oder die menschenlose Natur), deutet immerhin schon darauf hin, daß ein Ko-Subjekt als das für die Vernunftkonstitution notwendige Gegenüber gesucht wird.

Statt aber den Vernunftbegriff allererst dialogisch-trans- zendental zu begründen (ihn durch dialogisch-transzendentale Reflexion zu gewinnen) schüttet die Geschichtsphilosophie das Kind mit dem Bade aus und interpretiert in die Geschichte vorschnell einen Vernunftbegriff hinein, den sie zuvor erst hätte gewinnen müssen.

F: Hat Marx dadurch die Geschichtsphilosophie gerettet, daß er Hegel „vom Kopf auf die Füße“ gestellt hat?

A: Marx hat in der Tat versucht, die Hegelsche Interpretation der Weltgeschichte als allmähliche Selbstentfaltung der Welt- vernunft sozusagen materiell auszufüllen.

F: Wieso können wir, nach Marx, sicher sein, daß diese Selbstentfaltung tatsächlich stattfindet?

A: Das können wir, weil es analog zu den Naturgesetzen Gesetze der ökonomisch-sozialen Entwicklung gibt, die von sich aus dazu führen werden, daß am Ende die kommunistische Gesellschaft als eine Gesellschaft, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen überwunden ist, erreicht sein wird. Erst dann kann sich der Mensch in seiner Eigenschaft als vernünftiges Wesen frei entfalten. Insofern wird die kommunistische Gesellschaft das Ende der (bisherigen Art von) Geschichte sein. Die bisherige Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen (Sklaven – Herren, Adel – Klerus – städtische Berufsstände – Bauern), deren Verhältnis zueinander (ebenso wie das Entstehen neuer Klassen bzw. das Vergehen vorhandener) abhängt von der Entwicklung der (ökonomischen) Produktivkräfte (manuelle oder maschinelle Produktion, Automation, Verkehrsmittel etc.) und der damit verbundenen Produktionsverhältnisse (Art der Beziehung der beteiligten Menschengruppen zueinander). Die Produktionskräfte unserer Zeit sind die des (im England des 19. Jahrhunderts zum Durchbruch gekommenen) Industrialismus, der sich wesentlich auf die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften und eine parallele Entwicklung der technischen Möglichkeiten stützt. Die Produktionsverhältnisse sind die des Kapitalismus. Marx sagt voraus, daß der industrialisierte Kapitalismus notwendig nach einer Periode sich zuspitzender Klassenkämpfe zum Kommunismus führen wird.

F: Wieso führt für Marx der Kapitalismus zum Kommunismus? Es sieht doch heute eher so aus als wenn Kapitalismus zu noch mehr Kapitalismus führt!

A: Das sieht so aus; aber da ist vielleicht das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Der Kern des Kapitalismus ist die Mehrwerterwirtschaftung. Marx hat im Anschluß an den italienisch-englischen Ökonomen Ricardo erkannt, daß die menschliche Arbeit die besondere Eigenschaft hat, „Mehrwert“ zustandezubringen. Mehrwert ist die Differenz zwischen demjenigen Wert, der für die Erarbeitung eines bestimmten Produkts (eines Gegenstandes oder einer herzustellenden Situation) eingesetzt werden muß und dem Wert des Produkts. Wenn z. B. ein Bauer für die Bestellung eines Getreidefeldes, auf dem er am Ende vier Zentner Getreide erntet, zusammengenommen drei Monate Arbeitszeit aufwendet und während dieser Zeit jeden Monat einen Zentner Getreide verzehrt, um seine Arbeitskraft zu erhalten, so hat er 4-3=1 Zentner „Mehrwert“ erzielt. Zum „Kapital“ wird dieser Mehrwert, wenn er zum Zwecke erneuter Mehrwerterwirtschaftung reinvestiert wird. Unter den Bedingungen des wissenschaftlich fundierten Industrialismus ist das in hocheffizientem Maße möglich. In vorindustriellen Gesellschaften waren die Mehrwert- erwirtschaftungsmöglichkeiten begrenzt, da sowohl die Pro- duktionskräfte wie auch die Produktionsverhältnisse noch nicht entwickelt waren. Große Teile des erwirtschafteten Mehrwerts wurden für nichtökonomische Zwecke wie Kirchenbauten oder für die Luxuskonsumtion der Herrschaftsschichten verwendet. Ein eklatantes Beispiel dafür ist die unökonomische, vor- kapitalistische Verwendung (kapitalistisch gesagt: Verschwen- dung) des „Mehrwerts“, den die spanische Krone und der spanische Adel durch die komplette Ausplünderung mehrerer amerikanischer Hochkulturen erzielten. Voraussetzung für die Entfaltung des Kapitalismus ist natürlich eine Geisteshaltung, die die Erhöhung des Mehrwerts überhaupt für wichtig erachtet. Max Weber hat gezeigt, daß diese Voraussetzung anfänglich insbesondere im kulturellen Milieu Norditaliens und in eher protestantisch-calvinistisch geprägten Gesellschaften gegeben war.

Die immer wieder neue Reinvestition des Mehrwerts hat ein entsprechendes Wachstum des produzierenden Unter- nehmens zur Folge. Je größer die Stückzahl der hergestellten Waren, desto billiger kann das Unternehmen produzieren, desto besser kann es sich gegen andere Unternehmen behaupten. Der in diesem System angelegte Expansionismus verlangt nach außen eine ständige Vergrößerung der Märkte (bis hin zum Weltmarkt) und führt nach innen zur Minderung der Zahl der produzierenden Unternehmen (da die stärkeren die schwächeren verdrängen oder schlucken). Die Zahl der Unternehmen geht in dieser Logik streng genommen tendenziell auf 1 zurück. In welch großem Umfang diese Logik sich tatsächlich durchgesetzt hat, kann man sich vor Augen führen, wenn man etwa die Anzahl der Banken, der Autohersteller, der Flugzeugfabrikanten, der Chemiebetriebe oder der Saatgut- hersteller vor 40 Jahren mit der heutigen Anzahl vergleicht.

Dies ist die eine der von Marx gemachten Voraussagen: Die Zahl der Kapitalinhaber schrumpft. Die andere ist: Die Zahl und das Elend der von den Kapitalinhabern (seien es Personen oder Gesellschaften) beschäftigten Arbeiter steigt. Die Kapital- inhaber erzielen ja den Mehrwert nicht dadurch, daß sie ihn sich selbst erarbeiten, sondern dadurch, daß sie andere, die von Marx so genannten Proletarier, arbeiten lassen, ihnen aber von dem durch sie erwirtschafteten Mehrwert möglichst wenig abgeben, da auf diese Weise der erstrebte Mehrwert erhöht werden kann. Die Kapitalinhaber sind also darauf angewiesen, die Proletarier möglichst weitgehend ausbeuten zu können. Die dadurch bewirkte zunehmende Verelendung der Proletarier führt schließlich in Verbindung mit dem Umstand, daß ihre Zahl sehr groß ist und immer größer wird und die Zahl der Kapitalinhaber sehr klein ist und immer kleiner wird, zu einer weltweiten Erhebung der unterdrückten Arbeiter, zur Abschaffung der Klasse der Kapitalinhaber, damit zum Ende der Klassengesellschaft überhaupt (da es nur noch die „Klasse“ der Arbeiter gibt, also eigentlich keine mehr) und damit ineins zur Abschaffung der Herrschaft des Menschen (zuletzt: des Kapitalinhabers) über den Menschen (zuletzt: über die Arbeiter).

F: Könnte man nicht einwenden, Marx habe übersehen, daß der Kapitalinhaber ja auch daran interessiert ist, seine Waren an seine eigenen Arbeiter zu verkaufen und ihnen daher einen größeren Teil des von ihnen erwirtschafteten Mehrwerts überlassen muß (Steigerung der sogenannten Binnen- nachfrage innerhalb einer Volkswirtschaft)?

A: Das stimmt und dieses Interesse hat auch in der Tat zu einer erheblichen Steigerung des allgemeinen materiellen Wohlstands in den Kernländern des Kapitalismus geführt. Trotzdem gilt, daß der Kapitalinhaber seinen Mehrwert nur in dem Maße mehren kann, indem er davon weniger abgibt.

Wenn man den Blick von den Kernländern des Kapitalismus weg auf den Weltmarkt lenkt, müßte man schon die Augen verschließen, um nicht zu sehen, daß die von Marx (und bei weitem nicht nur von ihm, sondern auch von Beobachtern aus ganz anderen politischen Spektren) ana- lysierte Verelendung im Weltmaßstab fortexistiert. Die Ausbeutung erstreckt sich inzwischen nicht nur auf große Teile der Menschheit, sondern auch auf die für die Subsistenz des Wirtschaftsraums Erde essenziellen natürlichen Ressourcen. Allerdings sind in der Tat die Verelendung großer Teile der Menschheit und die fortschreitende Zerstörung der über- lebensnotwendigen Naturressourcen nicht monokausal auf kapitalistische Ausbeutung zurückzuführen. Das enorme Bevölkerungswachstum ist z.B. ein weiterer wichtiger Grund.

Ob diese Entwicklung der globalisierten Kapitalwirtschaft am Ende zur Beseitigung der Klasse der Kapitalinhaber und damit zur Beseitigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen führen wird, mag man angesichts des weit unterentwickelten Aufklärungsniveaus der Menschheit füglich bezweifeln; daß aber die Überlebensinstinkte der Menschheit den selbstzerstörerischen Konsequenzen der globalisierten Kapitalwirtschaft doch noch ein Nein wenigstens in den existenziell wichtigsten Bereichen (Militärtechnologie und Zerstörung nicht erneuerbarer Ressourcen) entgegensetzten und sie so zwingen, ein ihr übergeordnetes Prinzip, nämlich einfach das des Lebenserhalts, anzuerkennen – das mag man wohl hoffen dürfen (umso mehr als dies eigentlich auch im wohl- verstandenen, längerfristig kalkulierten Interesse der Kapital- wirtschaft selbst liegt).

So interessant und auch für die Gegenwart wichtig die Marx’sche Analyse sein mag, für die Beurteilung der seiner Geschichtstheorie zugrundeliegenden Antwort auf die philosophische Grundfrage (wie Erkenntnis möglich ist) bleibt festzuhalten, daß der Verweis auf die Geschichte erkenntnis- theoretisch irreleitend ist, da es die Vernunft, die Marx aus der Entwicklung der Ökonomie ableiten zu können meint, als Begriff ja schon vorher geben muß. Die Antwort darauf aber (woher dieser Begriff kommt) bleibt Marx uns schuldig.

F: Kann man den Kapitalismus wieder abschaffen?

A: Die Entdeckung des Mehrwerts und die Möglichkeit seiner Verwandlung in Kapital als Quelle immenser Wertschöpfung läßt sich nicht wieder rückgängig machen. Sie wird auch nicht dadurch abgeschafft, daß man die Produktionsmittel verstaat- licht oder in sonst eine Art von Gemeinbesitz überführt. Auch ehemals sich als „sozialistisch“ begreifende Gesellschaften (z.B. die Sowjetunion) waren kapitalistisch: auch hier wurde Mehrwert erwirtschaftet und reinvestiert. Diejenigen, die darüber bestimm- ten, waren jedoch keine Privatpersonen, sondern Staatsbüro- kraten.

Der „Kalte Krieg“, der über Jahrzehnte die Menschheit in ihrer Existenz bedrohte, war kein Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen Privat- und Staats- kapitalismus.

Hinzu kommt, daß in keinem der beiden Systeme das jeweilige Prinzip (hier Privat-, dort Staatskapitalismus) in Reinform existierte. Beides waren in Wirklichkeit gemischt- wirtschaftliche Systeme (privat und staatlich), wobei in den sogenannten sozialistischen Staaten der Anteil der Privatwirtschaft vermutlich erheblich geringer war als es der entsprechende Anteil der Staatswirtschaft in den privat- kapitalistischen Ländern war. In der Sowjetunion gab es eine volkswirtschaftlich bedeutsame private landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft inklusive Kleinhandel; in Polen war der größte Teil der Landwirtschaft privat; in diversen Ländern des „sozialistischen Lagers“ gab es privates Kleinhandwerk und privaten Kleinhandel; in allen diesen Ländern wurde die Familienstruktur erhalten, waren die Hauswirtschaften privat, ebenso die Kindererziehung in den ersten Jahren.

In den USA, die als Kernland des heutigen Privatkapi- talismus angesehen werden und sich selbst auch so verstehen, sind große Teile des Wirtschaftslebens nicht in den Händen von Privatpersonen, sondern in denen der Union, der Einzelstaaten oder der Kommunen (so im Gesundheitswesen, bei den Stras- sen, im öffentlichen Nahverkehr, bei der Post u.ä.m.). Außerdem gibt es den sehr großen Sektor der Militärwirtschaft, der zwar privat organisiert ist, aber von staatlichen Aufträgen lebt. Ein großer Teil der technischen Innovationen des Landes wird in diesem indirekt staatlichen Sektor oder in einem der staatlich finanzierten und kontrollierten Technologiezentren (z. B. MIT) erarbeitet. Darüber hinaus ist der öffentliche Dienst der größte Arbeitgeber des Landes. Das alles war schon zu Zeiten des Kalten Krieges so und es ist trotz aller neoliberaler bzw. neokonservativer Kampagnen bis heute im Prinzip so geblieben. Eine ökonomische Analyse der EU würde mit Sicherheit eine noch erheblich größere Kontrolle des Wirtschaftslebens durch (zwischen)staatliche Instanzen offenbaren.

Als Honecker seinen berühmten Staatsbesuch in Westdeutschland machte, sagte er, Sozialismus und Kapitalis- mus verhielten sich zueinander wie Feuer und Wasser und sein Gastgeber, der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, stimmte ihm darin zu. Beide waren davon in irgendeinem ernsthaften Sinne sicherlich auch überzeugt. Aber es war pure Ideologie. Allerdings keine harmlose, denn in ihrem Namen wurde über Jahrzehnte eine alle Vorstellungen sprengende Aufrüstung betrieben, die als Ergebnis schließlich eine soundsovielfache sog. Overkill-Fähigkeit hatte (d.h. die technische Möglichkeit, den Gegner mehrfach zu vernichten), mit anderen Worten: Die Welt wurde im Namen dieser sehr schnell als unhaltbar zu erkennenden Ideologie in ein Tollhaus verwandelt.

Noch während die beiden Protagonisten dieser unver- einbar feindlichen Systeme ihre Reden hielten, mögen eine Etage tiefer von den Wirtschaftsfachleuten Stapel von Verträgen und Absprachen über Joint Ventures, Zulieferungen, Import-Exportgeschäfte oder zu GATT- und WTO-Regelungen etc. unterzeichnet worden sein.

Schon Lenin hatte die deutsche Industrie aufgefordert, an der Elektrifizierung des bolschewistisch gewordenen Rußlands mitzuwirken. Und heutzutage ist das ‚kommunistische’ China eine der führenden kapitalistischen Wirtschaftsmächte.

Kurz: die Kapitalwirtschaft ist unrevidierbar; sie ist nicht an die Besitzverhältnisse gebunden.

Welche Art der Mischung (von privater, zentralstaatlicher, einzelstaatlicher, kommunaler oder kooperativer Wirtschaft) die beste ist, kann nicht situationsunabhängig gesagt werden. (Die Ideologen der Staatswirtschaft haben behauptet, sie hätten einen Masterplan, dessen Realisierung der Menschheit die Erlösung von allen Übeln brächte. Die gleiche Art Hoffnung erwecken die Ideologen der Privatwirtschaft, heute insbeson- dere die Vertreter des eschatologischen Neoliberalismus. Beide haben Unrecht.) Dabei sind viele Aspekte zu berücksichtigen, von rein technischen und ökonomischen bis hin zu historischen, kulturellen, sozialen und politischen, und die eher ‚weich’ erscheinenden Aspekte des Kulturellen und Historischen mögen sich nicht selten als die eigentlich ‚harten’ erweisen.

F: Für Marx war der Kapitalismus die Wurzel allen Übels und dementsprechend sein Ende der Beginn des Paradieses. Hat der Kapitalismus nicht auch gute Seiten?

A: Die menschheitsgeschichtlich bedeutsame, große Leistung des Kapitalismus ist die durch ihn geschaffene Möglichkeit der Überwindung der Mangelwirtschaft. Die Reinvestition des Mehrwerts ermöglicht, insbesondere unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Industrialismus, die Erhöhung der Wertschöpfung in einem Ausmaß, das nicht nur die Befriedigung ‚normaler’ Bedürfnisse des Alltagslebens (Essen, Kleidung, Wohnung u. ä.) ermöglicht, sondern auch die von offensichtlichen Luxusbedürfnissen. Die Kernländer des Kapitalismus wurden in der Tat teilweise zu „Konsum-“, wenn nicht zu „Überflußgesellschaften“. Das ist eine in der Geschichte der Menschheit neue Situation.

Der Kapitalismus ist also nicht nur nicht abschaffbar, er ist (alsBedingung der Möglichkeit der Überwindung von Mangelwirtschaft) sogar eine große Errungenschaft. Der Kapitalismus kann allerdings seine wünschenswerten Eigen- schaften nur entfalten, wenn die ihm innewohnende enorme Kraft in Kanäle geleitet wird, die die Strukturen menschlicher Gesellschaft schützen und sie nicht zerstören. Es bedarf, plakativ gesagt, einer „politischen Ökonomie“, die einerseits die für den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft wichtige Wertschöpfungskraft des Kapitalismus fördert, wie sie andererseits das ihm inhärente Interesse an Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und der natürlichen Ressourcen unter Kontrolle hält.

Auf die deutschen Verhältnisse bezogen heißt das: Es geht darum, den Artikel 14 des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen: „Eigentum verpflichtet. Es soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“ (Unterstreichung vom Verfasser.)

Was nun unsere philosophische Ausgangsfrage betrifft, so muß man, wie gesagt, festhalten, daß die Geschichtsphiloso-

phie darauf keine zufriedenstellende Antwort gibt: Indem sie „die Geschichte“ als Vehikel der Vernunftkonstitution begreift, über-

sieht sie, daß der Vernunftbegriff allererst als solcher konstruiert werden muß und daß es dazu von Anfang an der Einbeziehung des Ko-Subjekts bedarf.


 

    TOPOLOGIK.net   ISSN: 1828-5929

Collana di Studi Internazionali di

Scienze Filosofiche e Pedagogiche

N° 4/2008