Andreas Gruschka

Empirische Zugänge zur pädagogischen

Substanz von Unterricht[1]

 

I

Mit meinem Thema stelle ich die Frage nach der pädagogischen Substanz des Unterrichts. Das mag den meisten Lesern, die sich wie ich selbst als wissenschaftlicher Pädagoge verstehen, merkwürdig erscheinen. Pädagogen wissen nach dem Studium der ‚Alten’, worin sie bestehen könnte und sollte. Sie haben ein mehr oder weniger elaboriertes und reflektiertes Verhältnis zu den Aufgaben der Erziehung und Bildung durch Unterricht sowie der Didaktik als Theorie und Instrumentarium der Vermittlung. Ich frage trotzdem nach der pädagogischen Substanz, weil diese von so manch anderen in unserem Fach entweder gar nicht mehr als Zentralgegenstand ihrer theoretischen Arbeiten gesehen oder aber vorweg als nicht mehr zeitgemäße Beschreibungsform, als für das Begreifen des Unterrichtsgeschehens letztlich unwesentliches Sprachspiel, ja gar als wissenschaftlich nicht fassbar behandelt wird. Dagegen hilft wenig begriffliche Emphase, das Insistieren auf ein Anliegen oder der mahnende Hinweis auf die Tradition. Wenn überhaupt etwas helfen kann, dann der empirische Nachweis der Relevanz  pädagogischer Tatbestände zur Erklärung von Unterricht. Auch deswegen beschäftigt mich die Möglichkeit der empirischen Zugänge zur pädagogischen Substanz.

Freilich kann hier erst recht nicht von einem geteilten Verständnis oder auch nur Problembewusstsein ausgegangen werden, nicht bei Empirikern und auch nicht bei Theoretikern. Dazu eine Illustration:

Als wir kürzlich den sich bewerbenden Schulpädagogen für einen Probevortrag in Frankfurt als Thema „Grundfragen einer empirischen Didaktik“ vorlegten, konnten die meisten von ihnen nichts mit der Vorstellung einer empirisch ausgerichteten Didaktik anfangen. Sie dachten gleichsam automatisch: Didaktiker sind doch Konstrukteure und keine Rekonstrukteure!? Dass es innerhalb der allgemeinen Pädagogik eine erkenntnistheoretisch ausgerichtete, empirisch höchst gehaltvolle und fruchtbare theoretische Reflexionstradition über Didaktik gab, war augenscheinlich keinem bekannt. Dass die Wirklichkeit des Didaktischen zum Gegenstand empirisch gestützter Theoretisierung gemacht werden könnte, erschien ihnen ein mehr als nur gewöhnungsbedürftiger Gedanke zu sein. So als wollten sie sagen: Wenn man denn empirisch mit der Didaktik werden wolle, könne man sich doch bei der Lehr-/Lernforschung bedienen?!

Vor diesem Hintergrund könnte es aufschließend sein, wenn im Folgenden zunächst einfach und grundsätzlich expliziert wird, was man sich unter der pädagogischen Substanz von Unterricht vorstellen kann. Danach sei mit allgemeinen Überlegungen die empirische Zugänglichkeit des Unterrichts als pädagogischen  Geschehens erläutert. So vorbereitet möchte ich den Leser mit meiner Vorstellung von empirischen Zugängen in methodischer und materialer Hinsicht bekannt machen.

 

II

Die Rede von der pädagogischen Substanz verweist auf oder postuliert zweierlei.

Erstens, dass das Verstehen der Eigenstruktur des Unterrichtsgeschehens die pädagogische Denkform erfordert. Für die theoretische Durchdringung von Unterricht sind mithin nicht die Soziologie, konkret wie gegenwärtig beliebt, die Systemtheorie und auch nicht die Psychologie in der Form der pädagogisch-psychologischen Lehr-Lernforschung zuständig. Unterricht - wie andere soziale Orte auch -  sozialisiert und ermöglicht Lernen. Aber er tut dies in der Spezifik seiner pädagogischen Rahmung und Formung.

Zweitens wird unterstellt, dass das Unterrichten nicht nur mit seinem normativen Erwartungshorizont, sondern auch in seiner realen Form eine pädagogische Substanz besitzt. Sie zeigt sich im Sinne der notwendigen Entfaltung der „Eigenstruktur“ des Pädagogischen (Blankertz 1982, S. 306f) in der Praxis. So sehr im jeweiligen Unterricht Sein und Sollen auch immer auseinander klaffen mögen, die pädagogischen Erwartungen an das Geschehen, stülpen diesem nicht etwas bloß als Ideal über. Als für die Praxis von Schülern und Lehrern konstitutive Unterstellungen bestimmen sie auch das Handeln der Akteure: Die Schüler wissen, dass sie erzogen werden und wollen nicht bloß sozialisiert oder in ihrem Verhalten modifiziert werden. Sie benötigen einen absichtsvoll agierenden Lehrer. Der stellt sie vor Probleme des Verstehens überall dort, wo sie mehr als nur etwas grundsätzlich bereits Beherrschtes übend sichern und erweitern. Die Aufgaben, die der Lehrer den Schülern vorgibt, bestehen oder versagen vor der Verpflichtung, Zugänge zu den durch sie repräsentierten Gegenständen des Wissens zu ermöglichen. Die Normierung der Praxis durch Erziehung, Bildung und Didaktik ist ihr mithin inhärent, alle drei Grundbegriffe sind keine bloßen Pathosformeln.  

Bei den Klassikern oder auch Zeitgenossen wie Dietrich Benner finden wir schöne kurze Formeln für die fragliche pädagogische Substanz. „Der Begriff ‚erziehender Unterricht’ wird im folgenden synonym mit dem Begriff eines Unterrichts, der bildet, gebraucht, denn wie die anderen Dimensionen pädagogischen Handelns lässt sich auch diejenige des Unterrichts weder nur erziehungs- noch nur bildungstheoretisch fassen, sondern nur im Hinblick auf alle drei systematischen Fragestellungen der Pädagogik adäquat bestimmen“ Benner 1988, S.210). Benner nennt  sie die Theorien der Erziehung, der Bildung und der pädagogischen Institutionen. Begreift man letzteres als soziale Formgebung, so fehlt in meinen Augen lediglich eine vierte Dimension für jene Substanzbestimmung: Die Didaktik, die als das herbartsche Dritte das Geschäft des Unterrichtens organisiert.

Mit gefällt an einer solchen Zugangsweise, dass hier ein konstellatives Zusammenwirken von Strukturmerkmalen postuliert wird, damit etwas Allgemeines im Wissen darum, dass es sich je unterschiedlich konkretisiert. Es ist notwendig für die Form, dass immer alles beteiligt ist, aber es ist dies je unterschiedlich gewichtet der Fall. Es gilt immer das Gebot der Entfaltung der Teile zu einem Ganzen: sei es der Fallstruktur einer konkreten Unterrichtsstunde oder eines Unterrichtsmodells.

Strukturtheoretisch gesprochen bedeutet dies, dass eine adäquate Allgemein-Modellierung nur vorliegt, wenn an jedem beliebigen empirischen Fall, und sei es eines „schlechten“ Unterrichts oder eines solchen, der durch eine der Dimensionen dominiert wird, sich erweisen lässt, dass die Form immer alle Dimensionen emergiert.

Schon an den „Theorien und Modelle der Didaktik“, die Herwig Blankertz (1969/75) diskutierte, lässt sich das gut beobachten. Mögen sie eher auf Bildung, Lernen, Informationsverarbeitung „geladen“ sein, sie kommen bei der Unterrichts-Planung nicht ohne die Dimensionen aus, die sie jeweils nicht in den Vordergrund stellen. Was für die „Theorien“ und „Modellen“ gilt, muss noch nicht von der Wirklichkeit des Unterrichts erwartet werden. Pädagogische Theorien können bekanntlich manches leisten, um sich über die Wirklichkeit zu täuschen. Wer wollte annehmen, dass die „Theorien und Modelle der Didaktik“ auch diejenigen sind, denen Lehrer als Planungskonzepten folgen! Letztlich würde ich es von dem empirischen Gehalt des Allgemein-Modells abhängig machen wollen, ob wir ein Recht haben, die pädagogische Substanz des Unterrichts zu postulieren.

In den „Modellen“ und auch in den „Praxen“ lässt sich gleichermaßen die Tendenz erkennen, eine möglichst stimmige Einheit der Dimensionen herbeizuführen. Sobald man aber genauer hinschaut, erweist sich das konstellative Zusammenwirken als ein Arbeiten an strukturell nicht übersteigbaren Spannungen und Widersprüchen. Diese resultieren in der Praxis vor allem daraus, dass die Lehrenden in vielfacher Weise die Erfahrung machen, nicht zu können, was sie mit Blick auf ihre pädagogischen Überzeugungen oder Anliegen tun möchten. Nicht zuletzt sind die Schüler nicht so, wie man sie sich gerne wünschte: sie sind nicht mehr recht erzogen, in manchen Fällen absichtsvoll oder unschuldig begriffsstutzig, mit ihrem Geist nicht bei der Sache usf. So entsteht die Spannung zwischen Bildungsanspruch und Bildungsstand. Die wird nicht selten mit didaktischen und erzieherischen Mitteln bearbeitet, die der Bildung widersprechen.

Sodann werden nicht selten die Begriffe so geformt, dass sie entgegen ihrem konstitutiven Problemgehalt passend gemacht werden, etwa indem Erziehung um das zu ihr gehörende Heterome: die Unterwerfung unter Zwänge, aber auch das Autonome: die Unterstellung  von Mündigkeit gekürzt wird. Der „erziehende Unterricht“ als erfüllte Einheit von Erziehung und Bildung gehört ebenso zur Strukturbeschreibung des Unterrichts, wie die Möglichkeit eines Gegeneinander von Bildung und Erziehung. Und wo die Didaktik die Schüle zur mechanischen Aufgabenerfüllung erzieht, schwindet die Bildung.

Der Blick auf die Praxis des Unterrichts führt den Beobachter vor die Einsicht einer widersprüchlichen Einheit von Erziehung, Bildung und Didaktik, die die theoretische Pädagogik gerne heilen möchte, ohne es wirklich zu können. Die Dimensionen stehen objektiv widersprüchlich zueinander und doch werden sie faktisch in der Praxis so miteinander vermittelt, dass sie das „Funktionieren“ des Geschehens ermöglichen. Wie immer der Lehrende auch emphatisch motiviert sein mag, seine Vermittlungstätigkeit erziehend wie auch bildend zu gestalten, der Unterricht zwingt ihn unter gegebenen Umständen dazu, bescheiden zu werden und wenigstens das Durchnehmen der Stoffe mit hoffentlich motivierendem Material zu sichern. Adornos Diktum, nachdem nur am Widerspruch zwischen dem, was etwas zu sein beansprucht und dem, was es in Wirklichkeit ist, Wesen – wir sagen pädagogische Substanz - erkannt werden kann, enthält die Aufforderung, die Erschließung des Geschehens auch darauf zu richten, wie Unterricht seine Ansprüche hervorbringt und wie er sie gleichzeitig wieder kassiert.

So wie es in der Theorie die Tendenz gibt, das pädagogische Geschehen begrifflich zu harmonisieren, finden wir in praktischen Konzepten die vor, die Spannungen durch Vereinseitigungen zu beheben. Zu beobachten ist gegenwärtig das Schwinden der fachlichen Ansprüche mit Rückgriff auf eine zur Athropolologie verklärte Vorstellung einer eingeschränkten Bildsamkeit der heutigen Schüler, denen man vor allem mit erzieherischen Maßnahmen elementare Methodenkompetenzen vermitteln muss, um überhaupt weiter zu kommen (vgl. Gruschka 2008; Twardella 2008). Die Vereinseitigung kann bis zu dem Punkte gehen, bis die Einheit beginnt sich aufzulösen. Die Erziehung zur Methode verselbständigt sich und dient nicht mehr der Erschließung der Inhalte, didaktische Präparationen und Operationen der Inhaltsbearbeitung vereinfachen die Inhalte solange, dass das mit ihnen sich ergebende Bildungsproblem nur  noch gegen die Didaktik sichtbar wird. Die Ausbildung autonomer Urteilskraft wird durch die Ausrichtung auf ein gewünschtes korrektes Denken unterlaufen. Aus der Hilfe zur Aneignung und Zueignung wird der Versuch der moralischen Belehrung. Aber das Pädagogische löst sich solange nicht auf, wie dadurch die strukturelle Einheit selbst nicht außer Geltung gesetzt wird, es also nicht zu blanker Indoktrination kommt, der Unterricht sich in klippertsches Methodentraining auflöst, er also als Inhalt nur noch sich selbst kennt oder von Unterricht auf Quiz und Show, mithin Unterhaltung oder in der Form vom mind-maps auf kognitive Selbsterfahrungsübungen umgestellt wird. Dann freilich würde man nicht nur die pädagogische Substanz des Geschehens vermissen, sondern auch nicht mehr von Unterricht sprechen.   

Kurzum, meine Rede von der Substanz ist strukturtheoretisch gemeint, sie hebt dabei auf die empirische Konstitution der Form Unterricht ab.

 

III

Zu den empirischen Zugängen. Die kann man, wie es heute vor allem diskutiert wird, wissenschaftspolitisch behandeln oder, was leider zu wenig geschieht, methodologisch. Schließlich kann man versuchen, sie mit einem breiteren Erfahrungsbegriff zu  bestimmen.

Beginnen wir mit Letzterem. Mit Erfahrung soll ausgedrückt werden, dass jahrelange Anschauung und reflektiertes Verarbeiten des Geschehens den dominanten Zugang zum Feld bildet. Das kann von der literarischen Verarbeitung eigenen Erlebens bis zur regelmäßigen Besuchen von Unterricht etwa im Rahmen von schulpraktischen Studien gehen. Wer Brechts Erinnerungen an „seine besten Lehrer“ liest, der vergisst diesen Text nicht so leicht, weil er mit schwer überbietbarer Prägnanz das Unterrichten zweier Lehrer und desjenigen, was diese den Schülern wirklich gelehrt haben, charakterisiert. Wer jahrelang regelmäßig hinten in den Klassen bei unterschiedlichsten Lehrern saß, der verfügt mit der Zeit über eine geordnete Erfahrung. Es bedarf starker Argumente, um eine auf dieser Basis formulierte subjektive Modellierung infrage stellen zu können und bei Kritik an ihr nicht in den Verdacht zu geraten, man spreche wie der Blinde von Farbe. 

Das Unproduktive solcher, nicht selten mit Dogmatismus und Kritikabwehr bewährten Empirie besteht in der Regel darin, dass über die so generierten Urteile in der Regel nicht anders, denn mit den ähnlich zustande gekommenen eigenen Wertungen geurteilt wird. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Beobachter über kein „tertium comparationis“ verfügen, um an ihm die Geltung der Urteile prüfen zu können. Es besteht der Mangel an einem gültigen Protokoll, auf das sich beide Urteilenden gemeinsam beziehen könnten.[2]

Wollen wir methodologisch über den angemessenen empirischen Zugang entscheiden, müssen wir die Weisen der primären Erfahrung wissenschaftlich ausschärfen. Das beginnt mit theoretisch explizierten und begründeten Annahmen über die Konstitution der Gegenstände und setzt sich fort in den Gütekriterien für die Beobachtungsdaten und den Verfahren der Interpretation. Für die Methodologie der Unterrichtsforschung werden in meinen Augen vor allem die folgenden Voraussetzungen bedeutsam.

(1) Zunächst die Einsicht in die „Dignität der Praxis vor der Theorie“. Die Eule der Minerva sollte wirklich erst in der Abenddämmerung ihren Flug beginnen, nachdem das Tagwerk verrichtet wurde. Startet sie in der Morgenröte, so sieht sie nur, was sie im Vorgriff auf die Beobachtungstatsachen erwartet und sehen will. Wenn wir wissen wollen, ob und wenn ja wie Unterricht erzieht und bildet, dürfen wir methodisch nicht so tun, als ob wir es schon wüssten. Wenn wir es dann wissen, können wir mit diesem Wissen Beobachtungsinstrumente entwickeln, mit denen wir die stochastischen Erscheinungen und Werte in der Wirklichkeit bestimmen können. Die „Dignität der Praxis vor der Theorie“ soll damit die Gefahr bezeichnen, dass ohne sie der Praxis mit einer durch empirische Instrumente ausgedrückten Theorie dekretiert wird, was sie sei, die Praxis sich aber weder durch solche Forschung begriffen noch verstanden sieht.

(2) Des Weiteren gehe ich von der Priorität der Sache vor der Methode aus („dem Vorrang des Objekts“ Adorno). Erst mit den theoretisch aufgeklärten Erwartungen gegenüber dem Untersuchungsfeld lässt sich sinnvoll bestimmen, welche Methode die für ihre Erschließung angemessene ist. Adornos Positivismuskritik richtete sich nicht zuletzt auf die Zurichtung des Untersuchungsgegenstandes durch eine zur Geltungsinstanz verselbständigte Methode. Manche gegenwärtig heftig tätigen Forscher irritieren mich mit dem Selbstbewusstsein und der Selbstverständlichkeit, wie sie noch so komplizierte Gegenstände (sagen wir mal „Kompetenz“) auf das Prokrustesbett ihres Methodenverständnisses legen. Das klingt wie die Baumarkt-Werbung: Geht nicht? Gibt’s nicht!

(3) Wenn wir die pädagogische Substanz von Unterricht empirisch kontrolliert untersuchen wollen, müssen wir die paradoxe Situation bewältigen, dass wir theoretische Modellierungen streng von Erfahrungstatsachen abhängig machen, zugleich aber uns soweit mit theoretischem Besteck ausrüsten, dass wir gerichtet Erkenntnisse herstellen können. Es gilt die eine starke Präfigurierung der Sache durch Begriffe genauso zu vermeiden wie die Selbstillusionierung, die unbefangene Anschmiegung ans Material, das Warten auf die Erscheinung und das stete Basteln an einer Theorie sowie die „dichte Beschreibung“ würden schon für die Erklärung der Sache sorgen. In Analogie zu Sokrates’ Paradox kann man sagen: Man muss ziemlich genau wissen, was man wissen will. Das eingangs erinnerte Allgemein-Modell für Unterricht als pädagogischer Ort scheint mir eine gute Grundlage für eine solche Empirie zu sein. Auf dieser Basis haben wir zu prüfen, welche Untersuchungsmethoden geeignet sind, die konstellative Einheit von Bildung, Erziehung und Didaktik spezifiziert zu erforschen.

(4) Damit hängt ein weiterer Komplex zusammen, den ich als Problem der Logifizierbarkeit der Sache bezeichnen möchte. Sie geht mit der Frage einher, wie dem allgemeinen Gebot der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Aussagen Geltung verschafft werden kann.

Von welcher Natur ist das Unterrichtsgeschehen? Es ist einerseits ein in seiner Komplexität wissenschaftlich nicht einholbares Geschehen, eines, das in dem Sinne chaotisch erfolgt, dass sein Ablauf sich in einer Unzahl von Möglichkeiten diffundierend entfaltet. Es ist durch Unsicherheit und Ungewissheit ausgezeichnet. Andererseits folgt der Unterricht in all seiner Vielfalt einer Logik, besser gesagt mehreren. In gewisser Weise habe ich schon darüber entschieden, als ich nach der pädagogischen Substanz fragte. Wir postulieren, dass Erziehung, Bildung und Didaktik durch solche Logiken ausgezeichnet werden. Können wir das? Ich denke ja. Sofern wir den starken Begriff der Logik meiden wollen, kann man immerhin gut angeben, dass es in allen drei Bereichen Grundtatbestände gibt, die bestimmte Regeln ihrer möglichen Bearbeitung mit sich bringen.

-        Ohne etwas von freier Wechselwirkung gibt es keine Bildung, sondern nur Lernen als Konditionierung!

-         Bildung postuliert Verstehen, dieses geht selten ohne Krisen ab.

-         Ohne die Konstruktion eines Vermittlungsmedium als helfende Abkürzung keine Didaktik!

-         Es kann keine Deckung zwischen didaktischem Gegenstand und repräsentierter Sache geben.

-         Ohne die kontrafaktische Unterstellung von Autonomie keine Entwicklung von Autonomie.

-         Ohne (Selbst)disziplinierung keine Freiheit! Etc.

Wie regelt der Unterricht all das?

Unterricht in Schulklassen setzt weitere konstitutive Regeln:

-         Es kann immer nur einer reden.

-         Das Zuhören wird zum dominanten Modus des Lernens.

-         Kontinuitäten müssen angesichts der sachlichen und temporalen Brüche hergestellt werden usf.

Daneben finden wir Regeln vor, die aus kontingenten Vereinbarungen zwischen Lehrern und Schülern folgen und Ausdruck eines je besonderen pädagogischen Settings sind. Mein Lieblingsbeispiel: Wer die Indianerhäuptlingshand erhebt, signalisiert damit der Klasse, dass es ihm zu laut wurde, die Lauten in der Klasse haben sich darauf einzurichten und müssen leiser werden. Es funktioniert hervorragend.

Sofern wir von Regeln oder Logiken ausgehen wollen, mit denen sich Erziehung, Bildung und Didaktik gleichsam prozedural materialisieren, müssen wir sie zureichend theoretisch (als Regel und Logik) und empirisch (in der Sprache des Falles) explizieren. Dabei hilft die theoretische Bildung des Beobachters, die sich mit der Untersuchungstätigkeit kontinuierlich ausweitet. Neben die theoretische Bildung tritt die Möglichkeit des Bewusstmachens der erlebten Pragmatik des Geschehens auf der Basis von 13 Jahren Unterricht. Wir verfügen als Interpreten über einen geteilten Horizont von Bedeutungen, der die Entdeckung und Aufschließung des pädagogischen Sinngehalts und die Prüfung von Lesarten erleichtert. Dieser Horizont eröffnet bei aller positionellen Differenz der Beobachter die Möglichkeit einer Verständigung und damit intersubjektiven Überprüfung der gefällten Urteile.

Meines Erachtens bedeutet die Identifikation des empirischen Gehalts von Erziehung, Bildung und Didaktik noch viel Entwicklungsarbeit für unser Fach. Es ist ein Feld produktiver joint ventures zwischen allgemeinen Pädagogen und Empirikern. Es ginge damit darum, die empirischen Korrelate für jene theoretisch fixierte pädagogische Substanz zu identifizieren.

Wenn man allererst die Spannweite dieser empirischen Korrelate von Bildung, Erziehung und Didaktik ausmessen muss, ist - um es zu wiederholen - methodologisch ausgeschlossen, eine Forschung nach dem Typus zu betreiben, die sich mit ihren Skalen längst theoretisch darüber informiert fühlt, was sie untersuchen will. Dann ist nur noch über die Gradierung der Merkmalsausprägungen zu entscheiden und ihr Zusammenwirken auszumessen. Das bedeutet angewandte Forschung. Sie übernimmt die in den Skalen eingegangenen theoretischen Konstrukte und kommt ohne eine eigene, aus der empirischen Beobachtung selbst erwachsene theoretische Modellierung aus. In unserem Fall aber wäre das nur schwer zu rechtfertigen. Wenn wir uns dafür interessieren, wie Bildung im Unterricht emergiert, wie diese mit kohärenter Erziehung verbunden wird, aber auch wenn wir wissen wollen, wie es dazu kommt, dass eine angestoßene Bildungsbewegung wieder abgebrochen wird und womöglich nach welchen Regeln solches stattfindet, müssen wir die Wirklichkeit des Begriffs allererst im Begreifen der Wirklichkeit rekonstruieren.

Dann können wir keine Lehr- Lernforschung nach dem Muster betreiben, dass wir Inputvariabeln nach gegebenen Tests messen, verschiedene Prozessvariablen ratend ermitteln oder quasi experimentell herstellen, die Outputgrößen als Einstellungen und Testfähigkeiten bestimmen und danach Modellierungen von Wirkungszusammenhängen vornehmen.

Das Verfahren, das aus dem Objekt der pädagogischen Substanz zunächst einmal folgt, ist nicht approbierte, sondern Grundlagenforschung und ihr Muster ist das der sorgfältigen Fallrekonstruktionen.

(5) Hierfür sei ein weiteres Argument hinzugefügt. Wenn richtig ist, dass Unterricht als ein konstellatives Geschehen verstanden werden sollte, in dem eine Totalität der Bezugsgrößen wirkt, dann ist diese Konstellation je gültig an ihrem besonderen Ausdruck zu studieren und zu erschließen. Man kann nicht - wie ich es von meinem Frankfurter Kollegen Klieme höre - behaupten, man untersuche Konstellationen, bloß weil man statistische Größen und Wahrscheinlichkeiten vorher atomisierter Items miteinander in Beziehung setzt. Multivariate Wirkungsmodelle, nach Maßgabe ihrer statistischen Wahrscheinlichkeit bestimmt, bestehen geradezu in der Nivellierung der Effekte je besonderer Fälle. Sie sind Generalisierungsversuche, aber keine Erschließungen von Totalitäten. Dergleichen Generalisierung oder auch nur typologische Verallgemeinerung wäre erst zu rechtfertigen, sofern dafür die Grundlagen an möglichst vielen Fällen geklärt sind. Kohlberg musste erst einmal eine Stufe des moralischen Urteiles als eigene Logik und Schema gültig rekonstruieren, bevor er beginnen konnte, ankürzend über Indikatoren zu fragen, wie groß der Anteil einer Untersuchungspopulation ist, der dieses Muster teilt.

(6) Wenn man also zunächst vom Fall ausgeht, führt das methodologisch auf die Frage, wie dessen innere Prozesslogik zu bestimmen ist und wie im Vergleich von Stunden eine generalisierende Auslegung des untersuchten Sachverhalts.

Hier möchte ich nur betonen, dass schon die erste Form der Empirie uns mit dem Evidenzerlebnis ausstattet, dass ein Fall ein identifizierbares und mit seiner Regelhaftigkeit ein generalisierbares Schema anbietet. Jede Unterrichtsstunde ist ein einmaliges, nicht reproduzierbares Individuum, aber auch als solches Ausdruck einer Regelhaftigkeit. Das wissen wir alle als langjährige Schüler. Sobald wir uns einen Lehrer verständlich gemacht hatten, konnten wir ziemlich genau antizipieren, was heute und jetzt gleich geschehen werde und was er wohl tun würde, wenn wir etwas Bestimmtes tun würden. Zwischen den verschiedenen Lehrern gab es gravierende Unterscheide und in der Erinnerung doch große Ähnlichkeiten: vergleichbare Typen eben und so etwas wie „typisch Unterricht“, also eine Allgemeinmodellierung.

Das, was sich der beobachtenden Erfahrung mitteilt, ist in methodologischem Sinne als Voraussetzung der Regelhaftigkeit zu nutzen. Die Konstellation besitzt  mithin eine eigene Logik, die verständlich macht, warum geschieht, was geschieht. Während die probabilistische Forschung eigentlich von Kausalität schweigen müsste, können wir in der Fallrekonstruktion eine Strukturbildungs-Gesetzmäßigkeit ausmachen, die uns während unserer Arbeit an Transkripten in ihrer Prägnanz immer wieder überrascht.

(7) Und noch einen Nachschlag zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Analysen. In der Diskussion hat sich ein Methodenpositivismus vielfach über den pragmatischen Sinn des Gebots gelegt. Es heißt vielfach, dass nur bei statistischen Daten und Verfahren Intersubjektivität gegeben sei, weil sie technisch versichert wird. Das lässt sich grundsätzlich bezweifeln und als Konformitätsbetrieb ironisieren. Eine hohe Raterübereinstimmung etwa bestätigt nur, dass es gelungen ist, allen Beobachtern dieselbe Brille aufzusetzen, nicht aber, dass sie alle gleichermaßen oder überhaupt gut sehen. Der pragmatische Sinn der Forderung liegt an einer anderen Stelle. Er besteht darin, zu den Voraussetzungen der Urteilsbildung zurück zu gehen und an diesen zu prüfen, ob die Interpretation gerechtfertigt, ja zwingend ist oder nicht. Das aber lässt sich letztlich nur bewerkstelligen, indem man sich genauso wie der Urteilende mit den Daten beschäftigt und sie wie dieser, ggf, mit diesem auswertet. Wer in der stochastischen Forschung die Auswertungen mit vollzieht, hat es neben den oft gegen die Lehrbuchweisheit als gehaltvoll interpretierten Kennziffern lediglich mit den bereits normierten Daten und Verfahren zu tun; eigentlich kann er nur noch den Computer evaluieren. Hier gibt es nichts mehr zu falsifizieren. Die Forscher ist unschuldig an seinen Ergebnissen. Wer eine Fallrekonstruktion überprüfen will, muss sich genauso wie der Interpret der Erschließung des Materials stellen. Das bedeutet auch, dass eine aufgestellte Strukturhypothese zu einem Fall nur solange gilt, wie sie nicht explizit und damit in einer Reanalyse bewusst fallibilistisch erschüttert wurde. Das verbietet, wie es dennoch wohlfeil wurde, einfach arbiträr einen anderen Interpretationsstandpunkt einzunehmen und dann zu postulieren, man sehe ja, das Interpretationsverfahren sei nicht objektiv, schließlich habe man den Fall ja  anders gesehen.

 

IV

Ich komme zum dritten, heiklen Punkt einer wissenschaftspolitischen Entscheidung über den empirischen Zugang.

Wir haben es gegenwärtig mit einem Boom empirischer Unterrichtsforschung des pädagogisch psychologischen Typs mit sog. Hypothesen-prüfenden Verfahren zu tun, der den Beobachter in großes Stauen versetzen kann. Es entzündet sich an der Fähigkeit einer kleinen Gruppe von Promotern, ihre Vorstellung von empirischer Bildungsforschung auf allen Ebenen als maßgebend durchzusetzen. Es macht sich ein wissenschaftlicher Monismus breit, der nicht nur jedes andere, vor allem rekonstruktionslogische Forschen marginalisiert und unter einen Generalvorbehalt, ja das Verdikt setzt, nicht zur empirischen Forschung zu gehören. Ich erinnere hier nur an die jüngste Generalabrechung in der ZfE in Sachen Professionalisierungsforschung durch Baumert/Kunter und Tenorth (2007).

Mein Punkt heute und hier soll aber nicht darin liegen, den methodischen Imperialismus zu attackieren. Ich möchte vielmehr darauf aufmerksam machen, dass diese Forschungsrichtung mit der Exkommunikation und Umtaufung der anderen Forschung: sei es als Propaganda, normative Abirrung oder Feuilleton, zugleich sich der pädagogischen Substanz des Unterrichts entledigt oder Erbschaften erschleicht.

 

Ich gebe dazu nur zwei Beispiele.

In der Expertise zu den Bildungsstandards liefert Herr Tenorth eine Begründung, warum die Umstellung von Bildung auf Kompetenz nicht nur notwendig, sondern auch nichts Problematisches sei. Zum einen sei sie notwendig, weil die Bildungstheoretiker oder auch die bildungstheoretischen Didaktiker sich immer nur als „Stratosphärendenker“ (P. Heimann)  Wünschenswertes ausmalen können, während sie das Empirische vernachlässigen. Eine sachhaltige Beschreibung der Bildungswirkung aber sei nach PISA unverzichtbar und sie könne in einer Darstellung domänenspezifischer Wissensbestände bestehen, die als Kompetenzen der Schüler auf unterschiedlichem Niveau beschrieben werden. Damit würde endlich Bildung eine vor allem für die Messung operationable Größe. Der Sache werde freilich kein Schaden zugefügt, weil der Bildungsbegriff nie etwas anderes meinte als Kompetenz. Ich habe die steile These an anderer Stelle genau analysiert (Gruschka 2006). Interessant hieran ist, dass der in diesen Dingen ja sicherlich gut belesene Schreiber der Expertise alles andere, was er zum Bildungsbegriff auch weiß, dabei verschweigt und praktisch über Bord gehen lässt. Schaut man sich dann an, wie in der Expertise die Steilvorlage aufgenommen wird, so zeigt sich, dass jede Erinnerung an die etablierte Vorstellung von Kompetenz als Bildung von den anderen Autoren nahezu zum Verschwinden gebracht wird. Die ungemein schlichte Beschreibung der Teilaktivitäten durch Weinert, um einen fremdsprachlichen Korrespondenzbrief zu schreiben, wird in der „Expertise zu den nationalen Bildungsstandards“ zum Modell für Kompetenz. Auch wenn man ohne theoretische Ansprüche auf diese Kompetenz blickt, drängt sich sofort die Frage auf, worin hier noch Bildung bestehen könne. Die Bildung gerät nicht nur nicht in gute Hände, sondern in solche, die sich durch ihre Unkenntnis und ihr Nicht-Verhältnis gegenüber dem Begriff auszeichnen.

Mein zweiter Hinweis zielt auf das inzwischen wie ein wissenschaftlicher Standard behandeltes „Angebots-Nutzungsmodell“ (Helmke 2003; Gruschka 20007) der Unterrichtsforschung, wie es mit Helmke seine nun allgemein als gültig kommunizierte Form gefunden zu haben scheint. Es ist atemberaubend zu sehen, dass sich unsere Zunft an ihm danach nur noch in der Form abarbeitet, dass Autoren hier und da einen anderen Unterbegriff, ein andern Pfeil oder ähnliches vorschlagen. Ich bin bislang der einzige, der das Konzept grundsätzlich problematisiert hat.

Warum. Nicht etwa weil mit ihm nicht absehbar viele Reihen von Untersichtsforschungen generiert werden können und inzwischen auch werden. Das spricht eigentlich für das Modell. Der Punkt ist: Hier wird ein Paradigma durchgesetzt, das beansprucht, den Unterricht umfassend als Geschehen abzubilden und auch die Debatte über guten Unterricht anzuleiten. Aber es handelt sich um ein Modell, in dem es keine einheimischen pädagogischen Begriffe mehr gibt. Bis auf das Kriterium einer fachdidaktischen Kompetenz kommt die Modellierung ohne jeden pädagogischen Terminus aus. Von Erziehung ist genauso wenig die Rede wie von Bildung. Da es sich um ein Konzept eines ehemaligen Mitarbeiters des Weinert-Instituts handelt, der wiederum eine soziologische Modellierung von Fend ausgegriffen hat, verwundert die Abwesenheit pädagogischer Begrifflichkeit nicht weiter. Gespenstisch wird es jedoch, wenn die Pädagogen  -  wie kürzlich Hilbert Meyer 2004 - nichts Besseres zu tun wissen, als das für das eigene Fach zu übernehmen.

Die heute dominierende empirische Unterrichtsforschung hat kein Verhältnis zur pädagogischen Substanz.

Wer aber postuliert, den empirischen Zugang zur pädagogischen Substanz zu suchen, gerät gegenwärtig zwischen zwei Stühle. Er kehrt dem didaktischen Konstruktivismus den Rücken und erfährt die Abwehr der empirischen Bildungsforschung. Aber vielleicht hilft unsere Tagung, dass sich das ändert.

 

V

Zu meinen eigenen Versuchen.

Die empirischen Korrelate für die pädagogische Grundbegrifflichkeit interessieren mich schon über dreißig Jahre in verschiedenen Projektzusammenhängen. Angefangen mit der Bildungsgangsforschung zur Kollegschule, wo wir versuchten, den Bildungsgang, den wir für die Schüler entworfen hatten, mit dem zu konfrontieren, den die Schüler über drei bis vier Jahre real gestalteten und durchmachten: mit der Rekonstruktion der objektiv wie subjektiv durch die Anforderungsstruktur  gegebenen  Entwicklungsaufgaben im Verlaufe der Bildungsgänge, mit der Frage, wie hier das Vermittelte angeeignet, ja zugeeignet wird, wo Krisen des Verstehens und der Orientierung entstehen, die dann zur Bildung von Orientierungen führen, wie im Medium des Berufs sich das je besondere Ich-Welt-Verhältnis neu ausrichtet. Mit solchen Fragen haben wir die pädagogischen Prozesse zu rekonstruieren versucht (Gruschka 1985, Blankertz 1986).

Danach habe ich mit einer Fülle von Fallstudien, die sich auf ephemer scheinende, in der Regel natürliche Protokolle des Schulischen (Klassenarbeiten, Arbeitsbögen, Schulordnungen, Konferenzprotokolle usf.) bezogen, versucht zu verstehen, wie eine pädagogische Normierung in Widerspruch gerät zu den funktionalen Imperativen der Institution. Das kann in mehr als 30 kleinen „Kältestudien“ nachgelesen werden (Pädagogische Korrespondenz 1ff, Gruschka 1994).

Seitdem ich in Frankfurt bin, arbeite ich an einer Theorie des Unterrichtens und in den letzten drei Jahren haben wir dazu an vier hoch kontrastiven Sekundarstufenschulen über die Breite der Unterrichtsfächer Unterricht ausgezeichnet und mit den Transkripten gearbeitet (siehe Gruschka 2005, PÄRDU: www.//uni-frankfurt.de/fb/fb/04/forschung/emp2.html)

Ziel ist es hier also, die konstellative Beziehung von Erziehung, Bildung und Didaktik als die zentralen pädagogischen Motivierungen der Form Unterrichten zu untersuchen.

Einige der methodischen Prinzipien, die den gewählten empirischen Zugang seien markiert (vgl. Gruschka 2005):

(1.) Wir arbeiten mit den natürlichen Protokollen des pädagogischen Geschehens. Wir generieren keine sekundäre Repräsentation für Unterricht durch Test- oder Einschätzungs-Daten.

(2.) Dieses Geschehen tritt uns immer als individueller Fall entgegen und wird im Sinne strenger Kasuistik als solcher gewürdigt, also nicht subsumtionslogisch an und mit bereits Bekanntem abgeglichen (wie etwa Skalen und Ratings).

(3.) Wir studieren die Verlaufslogik „in situ“, d.h. an der realen, im Protokoll abgebildeten Entwicklung des Geschehens. Dazu arbeiten wir mit der Sequenzanalyse. Sie drückt methodisch aus, was in der Realität unausgesetzt geschieht, dass nach dem Beginn des Unterrichts jede Bemerkung auf eine vorhergehende interpretierend reagiert, wie sie zugleich unterschiedliche Möglichkeiten von Anschlüssen entbindet. Die jeweilige, immer motivierte Selektion aus diesen Möglichkeiten, das heißt das Deutungs- und Reaktionsverhalten von Lehrern und Schülern eröffnet den Blick auf die subjektiven Motive wie auch die objektiven Regeln, denen dabei pädagogisch gefolgt wird: wie der Lehrer lehrt und wie der Schüler lernt und wie jeweils jeder auf jeden und die zwischen ihnen verhandelte Sache antwortet.

(4.) Dabei generieren wir Lesarten zu den unterrichtspragmatisch möglichen, pädagogisch angemessenen Anschlüssen, den sinnvollen Ausdrücken, wie auf eine Bemerkung eines Schülers reagiert werden kann, wie ihm eine Frage zu stellen wäre usf. Erst wenn diese Lesarten bestimmt sind, sehen wir, was als nächster Schritt tatsächlich geschieht. Nicht selten stoßen wir dabei auf misslingende Kommunikation, die selbst aber ihren regelhaften Hintergrund hat.

(5.) Bei der Interpretation gehen wir nicht, wie es Pädagogen gerne machen, von dem wahrscheinlich oder eigentlich Gemeinten aus, gleichsam dem Ideal hinter dem Geschehen. Wir postulieren stattdessen einen objektiven Gehalt mit der Bedeutung des Gesagten. Es gilt damit das Prinzip der Wörtlichkeit. Der Rede wird damit Verantwortlichkeit und Gestaltprägnanz unterstellt, jenseits der entsprechenden subjektiven Präsens der artikulierten Bedeutungen. Wir nehmen den Text als motivierte Ausdrucksgestalt ernst und unterstellen damit, dass der Lehrer meint, was er sagt. Erst wo die Analyse das zwingend als falsch erweist, wird die positive Unterstellung durch die sich durchsetzende etwa die der Ironie ersetzt. Dann aber gilt wiederum, dass der objektive Gehalt der verstellten Kommunikation bestimmt werden muss.   

(6.) Wir beschränken unsere Aufmerksamkeit auf Unterricht als pädagogische Kommunikation über Erkenntnistatbestände. Damit ist klar, dass wir den Unterricht nicht in der umfassenden Gesamtheit seiner Erscheinungen und Bedeutungen erfassen. Eine entsprechende Totalaufnahme ist angesichts der Komplexität des Geschehens keine reale Option. Wir können deshalb zum Bildungsprozess der Schüler nur das aussagen, womit er zum Gegenstand der klassenöffentlichen Kommunikation gemacht wurde. Wollten wir etwa an die jeweilige Bildungswirkung der Schüler herankommen, müssten wir eben ein entsprechendes Design entwickeln. (Sofern wir auch hier an natürliche Protokolle herankommen wollen, müssen wir die Normalität des Lernens hinter uns lassen und etwas explizit machen, was nur selten entsprechend explizit abläuft, etwa als mitlaufender innerer Kommentar: „lautes Denken“.)

(7.) Wir nehmen den Unterricht als Reflexionsanlass über die Inhalte der Erkenntnis wahr, weil in ihm nicht einfach gelernt und geübt wird, sondern das Lernen und das Üben immer auch zum Gegenstand der Kommunikation wird. Damit wird Unterrichten untersucht als der in der Klassenkommunikation eröffnete Möglichkeitshorizont des Verstehens der Inhalte und der Einübung in das dazu erforderliche Verhalten.

(8.) Am Ende einer solchen Fallstudie formulieren wir mit der Fallstrukturhypothese, eine genetische Erklärung aller Details und der Unterrichtsdynamik aus dem übergreifenden Regelwerk des Umgangs mit den pädagogischen Dimensionen der Erziehung, der Bildung und der Didaktik.

(9.) Im anschließenden Vergleich der Fälle kommt es zur übergreifenden Modellbildung. Dazu haben wir bislang lediglich erste Versuche erarbeitet. So zur Logik schulischer Präsentationsübungen (vgl. Gruschka 2008a), der pessimistischen Anthropologie des Schülers, wie sie sich in den Unterrichtsentscheidungen ablesen lässt (vgl. Twardella 2008)  oder der auffindbaren Didaktisierungsstrategien (vgl. Gruschka 2008b) In einigen Monaten wird ein Band mit 16 Fallstudien quer zu allen Unterrichtsfächern vorliegen, mit denen ich nach der Relevanz der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie für das Verstehen der Inhalte der achten Klasse frage.

VI

Ich komme abschließend zu drei kleinen Beispielen für diese Weise der pädagogischen Unterrichtsforschung: wie wir also arbeiten. Ich liefere lieber diese, als nun abschließend mit so etwas  wie ein „best of“ unserer Ergebnisse zu bieten.

(1) Mein erstes soll ihnen einen so schlichten wie hoffentlich eindringlichen Eindruck verschaffen, wie wir fragen, wenn wir Unterricht als pädagogische Geschehen auffassen.

In einem Unterrichtstranskript findet sich zu Beginn folgende Passage:

Lw: So, o.k, dann fangen wir an. Ihr hattet die 3 u-n-d die 5 auf. Bei der 3, mit der hatten wir in der Schule angefangen. Also dürfts eigentlich gar keine größeren Probleme geben.

Eine Bemerkung, die wir so oder ähnlich immer wieder zu Beginn des Unterrichts finden. Eine Lehrerin leitet mit ihr die Besprechung der Hausaufgabe ein. Nach meiner Kenntnis würde die Lehr-Lernforschung allein den Typ der Handlung kodieren und dabei den Tonfall der Erinnerung, was zu tun war. Eine Auslegung solcher Sätze auf ihren pädagogischen Sinngehalt ist mir noch nicht begegnet.

Wie sähe die aus? Das  „ihr hattet auf“ postuliert faktisch, dass alle bereit und in der Lage waren, die Hausaufgaben zu machen. Ansonsten wäre die Hausaufgabe weder erzieherisch gesichert, noch als pädagogische Beschäftigung der Schüler zu legitimieren. Doch schon die insistierende, je nach Tonfall bereits drohende Dehnung der Konjunktion „u-n-d“ deutet an, dass sie ihre Zweifel hegt. Die Aufgabe „3“ wurde bereits in der Schule - also mit Hilfestellung der Lehrerin - begonnen. Doch ob deswegen auch für „die 5“ vorliegen wird, scheint für die Lehrerin ungewiss zu sein. Ein Grund dafür könnte sein, dass die SuS nicht dazu bereit waren, die mit ihrer Rolle verbundenen Verpflichtungen zu erfüllen. Sie wussten, was zu tun war, sie wären auch dazu in der Lage gewesen, die Aufgaben zu lösen, doch wollten sie es nicht. Dann läge ein Problem vor, auf das die Lehrerin erzieherisch reagieren müsste. Es könnte aber auch sein, dass die SuS zwar dazu bereit waren, die Hausaufgaben zu machen -  auch „die 5“ -, dass sie aber die Aufgabe nicht lösen konnten. Dafür kann es zwei nicht kontingente, sondern mit der Form Unterricht einhergehende Gründe geben: Entweder ist der Sachverhalt, um den es geht, von den SuS (noch) nicht verstanden worden. Damit läge subjektiv ein Bildungsproblem vor. Oder aber der Lehrer hat es nicht vermocht, die Aufgabe so einzuführen, dass sie von allen Schülern hätte gelöst werden können. Das sich andeutende Problem wäre damit eines der Vermittlung der Sache oder der Didaktik des Lehrers. Möglicherweise hat der Lehrer mit seiner didaktischen Erklärung und Hilfestellung die Sache nicht getroffen, dann hat er die in ihr steckende objektive Bildungsaufgabe nicht zureichend bearbeitet. Weder weiß der Lehrer in diesem Augenblick, was der Fall ist, noch kann er ausschließen, dass es an allen drei Stellen hakt.

Wie in dem gedehnten „u-n-d“ sind die drei Dimensionen des Unterrichts auch in der anschließenden Formulierung „Also dürfts eigentlich gar keine größeren Probleme geben“ enthalten: Die Lehrerin macht sich Mut, indem sie die „größeren Probleme“ ausschließt. Das „eigentlich“ und der Konjunktiv aber implizieren schon, dass das nicht sicher ist. Die „größeren Probleme“ liefen auf das Nicht-Verstehen der Aufgabe heraus, dieses selbst darauf, dass das in ihr enthaltene Problem nochmals behandelt werden müsste. Eigentlich würde sie nur kleinere Probleme gelten lassen wollen, die etwa darin bestünden, dass nicht alle Schüler die Aufgaben machen wollten. Vermittelt wird wie Unsicherheit durch die übergeordnete pädagogische, genauer gesagt, erzieherische Bedeutung ihrer Äußerung: Obwohl sie weiß, dass es Probleme bei der Besprechung der Hausaufgaben geben wird, unterstellt sie, dass die SuS dazu in der Lage sein sollten, sie zu lösen: Waren sie aufmerksam und fleißig, gab es „gar keine“ Probleme. Treten nun dennoch solche auf, dann wissen sie, woran es lag. Aber diese Auflösung der pädagogischen Situation in Erziehung gilt nur „eigentlich“, nicht unbedingt empirisch.

Wir werden mit dieser Auslegung aufgefordert, im weiteren Transkript die empirische Antwort auf die schon zu Beginn aufgeworfene pädagogische Frage zu finden. Die Antwort kann nicht in der Beobachtung der weiteren Kommunikation als Kommunikation gefunden werden, der nächste Schritt besteht in der Analyse der Aufgabe und mit ihr in der dreifachen Bestimmung: der der Sache, der der Aufgabenpragmatik und der Sache zu der sie für die Schüler geworden ist.   

(2) Was wäre damit der Gegenstand der folgenden Analyse?  Natürlich die Art und Weise, wie der Lehrer das mögliche Problem bearbeitet. Aber Sie verstehen vielleicht bereits jetzt, also quasi intuitiv, dass man das nur mit Aussicht auf den Erfolg einer Erschließung unternehmen kann, wenn man zuvor das Problem selbst bestimmt hat.

Ich lege Ihnen hierfür ein ganz und gar typisches Arbeitsblatt aus dem Unterricht in der Gesellschaftslehre oder Geschichte vor.

Abb. Cortés Anhang

In einer Serie von solchen Blättern werden die großen Entdeckungen des 15. und 16. Jahrhundert, als die Welt für uns zum Globus wurde, vorgestellt. Was sehen und lesen wir wie die Schüler?

Bilder und Text. Beim Text eine vielfache Gliederung in Überschriften und Text: Texttypen wie die Bestimmung von „Q1“ und nicht Qs, sowie Aufgaben, die aus dem Blatt ein Arbeitsblatt machen.

Ausgangspunkt ist eines der wundersamsten Geschichtsereignisse der frühen Neuzeit: Wie nämlich eine Handvoll ziemlich verwegener Spanier es schaffte, ein Imperium zu erobern und anschließend zu vernichten: das Reich der Azteken.

Die Geschichte wird nicht einfach erzählt, sondern mit dem Anspruch dargeboten, sie zu analysieren. Arbeiten sollen die Schüler, indem sie die  Quellen sich anschauen und sie bewerten, um so die Frage zu beantworten: Wie konnte es geschehen?

Kann man das mit einem einzigen Arbeitsblatt leisten? Wir können bald erkennen, dass der Didaktiker dies nicht nur unterstellt, sondern auch erfolgreich bewerkstelligt.

Gehen wir hierzu, wie es auch Lehrer und Schüler tun, auf die Aufgaben ein.

Gefragt wird mit ihnen danach, was der Aztekenkaiser meinte als er zu Cortés sagte  „Du bist in Deiner Stadt angekommen“ Sodann wird gefragt, welche Ziele der Spanier vorfolgten und wie sie sich verhalten haben.

Der Didaktiker sorgt dafür, dass die erste Frage nicht falsch beantwortet werden kann: in Deiner Stadt macht klar: Moctezuma hat dem Cortés die Stadt übergeben. Mit der Überschrift „goldgierige Spanier“ wird sodann klar, was die Spanier angetrieben hatte, eben die Gier nach Gold. Mit der Subunterschrift „Ankunft der Götter“ wird klar, warum der Kaiser so töricht gegenüber Cortes was: Sie wurden als die Boten der Götter missverstanden, die man in Mexiko zurück erwartete.

Wer sich nur ein wenig für Geschichte interessiert, der weiß mit solchen leichten Antworten nichts anzufangen. Er wird ihnen mit einer Fülle von Nachfragen begegnen, die bald die angebotene Erklärung als unsinnig erweisen werden. Wer genauer hinsieht, wie die Sache repräsentiert wird, der stolpert darüber, dass Bilder wie eine Fotoreportage behandelt werden, obwohl sie erst Jahrzehnte nach dem Geschehen angefertigt wurden, dass die Quellen nicht vollständig sind, ja dass sie wie die Rede des Kaisers unmöglich von diesem selbst stammen kann.

Wie soll man das beurteilen? Nun wohl indem man die Darstellung der Fachlichkeit genauer untersucht, mithin danach fragt, was von ihr in der Unterrichtskommunikation über das Blatt zum Gegenstand wird, und indem man zugleich zu erklären versucht, was pädagogisch geschieht, wenn zwecks Lernen der Geschichte diese weitestgehend von ihrem Problemgehalt und Bildungssinn entsorgt wird und wie es die Didaktik auch noch schafft, dass die Schüler sich so etwas gefallen lassen.

(3) Haben wir noch Zeit für mein drittes Beispiel? Es bezieht sich auf das Unterrichtsgeschehen. Ihnen liegt eine weitere Aufgabe, nun eine aus dem Deutschunterricht vor.

„Aufgabe 3:

Die nebenstehenden Sätze enthalten drei Thesen. Ordnen Sie ihnen die zugehörigen Argumente, Belege und Beispiele zu.

Beispiel: These 1: ... Zugehöriges Argument: ... Beleg: ... Beispiel: ...

a) Denn nur eine kleine Zahl von Bewerbern wird zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.

b) Zu dieser Frage habe ich vor einiger Zeit eine informative Fernsehsendung über das Amazonasgebiet in Brasilien gesehen.

c) Das Abholzen der tropischen Regenwälder muss unbedingt eingestellt werden.

d) Denn diese Stoffe haben, vor allem langfristig, gefährliche Nebenwirkungen.

e) Das haben wir in unserer Klasse bei Bewerbungen immer wieder festgestellt.

f) Weil viele Betriebe eine Vorauswahl der Bewerber nur nach den Noten treffen.

g) Denn die riesigen Waldflächen produzieren den lebensnotwendigen Sauerstoff.

h) Weil diese Mittel die Gesundheit der Athleten schädigen.

i) Gute Noten im Schulzeugnis sind bei einer Bewerbung entscheidend.

j) Die Einnahme von leistungsfördernden Dopingmitteln im Sport muss verboten werden.

k) Weil diese Wälder für das Weiterbestehen der Menschheit unbedingt erforderlich sind.

l) Die Bilder von männlich wirkenden Leichtathletinnen zeigen doch auffällig, wie gesundheitsschädigend diese Mittel sind.“


Unschwer zu erkennen ist, dass hier ein Zusammenhang von vier Satztypen zu einem Thema künstlich auseinandergerissen und durchgemischt wurde. Die Aufgabe lautet, die Sätze wieder in die ursprüngliche Ordnung zu bringen. Damit bereits ist der Tatbestand einer Rätselaufgabe gegeben. Es geht nicht darum zu prüfen und zu belegen, warum drei der 12 Sätze Thesen sind, drei andere Argumente repräsentieren usf. Auch liegt hier nicht die Absicht vor, die Zuordnung  als eine problematische bzw. anders  zu  begründende zu erfahren. Die Schüler sollen vielmehr die Sätze  als gültige Repräsentanten ihrer Form finden. Wie macht man das, wenn man nicht  genau weiß, was eine These, was ein Argument, was ein Beleg und was ein Beispiel ist? Soll man es etwa durch die Zuordnungsübung  erst lernen?

Wenn man es nicht weiß, eröffnet sich eine alternative Lösungsstrategie. Wir kennen sie von ähnlichen Aufgaben in einem Intelligenztest. Danach muss man erkennen, wie die Kombination zustande gekommen ist, was sich wohl der Autor gedacht hat und welche Hinweise sich für seine Ordnungsvorstellung in den Sätzen entdecken lassen. So eingestimmt findet man drei Sätze mit dem Anfangswort: „Weil“  und drei mit dem Anfangswort „Denn“.  Argumente dürften wohl anfangen mit einem begründenden „Denn“, Belege mit einem „Weil“. Vielleicht ist es auch umgekehrt. So sind bereits sechs Sätze zugeordnet. Beispiele sind sicher konkreter als Thesen, also weiß man mit den anderen sechs Sätzen, wie sie zuzuordnen sind. Über das Argument und den Beleg entscheiden wir am besten ähnlich: Belege sind sie konkreteren Sätze, Argumente die allgemeineren; hoffentlich passt das zu „denn und weil“.

Man kann das experimentell durchspielen und wird in kürzester Zeit eine Lösung präsentiert bekommen.

Der Lehrer geht so aber nicht vor, sondern behandelt statt der Kombination der Satztypen einen von ihnen: die These. Damit fangen die Probleme an:

.Aus dem Unterrichtstranskript

L.: Wir beginnen mit der ersten Aufgabe. Und zwar als Beispiel ist hier oben angeführt, Arbeitsblatt 3  These 1: dazugehöriges Argument, Beleg und Beispiel. Die nebenstehenden Sätze enthalten drei Thesen, die sollt ihr finden. Vielleicht machen wir das erst mal in Schritten ... Bitte?

Sm?: Können Sie kurz sagen, was noch mal eine These ist?

L.: Was ist eine These? .... Was ist eine These?

Sm10.: Das ist eine Aussage, .... die noch nicht begründet wurde. Kann man sagen, vielleicht ein Beweis, der noch nicht begründet wurde. Ich meine Beweis ist ja begründet, aber ...

L.:...  die Aussage wäre besser.

Sm10: . Ja, OK

L.: Also eine Aussage, die noch nicht begründet oder ausgeführt worden ist. So dann machen wir das erst einmal und ihr guckt jeder ... Wir haben auch  noch ein bisschen Zeit, für a) und 1. Wo findet ihr dann Aussagen, Thesen Es müssen drei versteckt sein. Und die nummeriert ihr dann euch mal durch:  1.2.3.

Sw10: Ich verstehe das noch nicht!

L.: Verstehst Du?

Sw?: Wir sollen jetzt also von diesen drei Hypothesen, die darin enthalten sind oder was? ... Ich brauchte jetzt von diesen Sätzen ein Beispiel, was eine These ist zum Beispiel.

L: ... eine einfache Aussage. Äh was können wir ...

Sm9: Die Welt geht in zwei Jahren unter!

L.: Weißt Du es jetzt?

Sw10 : Ja

...

L.: „...  also der versucht dir etwas zu erklären, was zu begründen, zu belegen, ja? OK Also das (gemeint ist seine eigene Liste A.G.) sind die drei Thesen. Was ist? Noch ne Frage?

Sm9:  Ich hab was auszusetzen, dass c eine These ist, denn da ist überhaupt keine Aussage drin, Doch, ist schon eine drin, aber äh..

L.: Das Abholzen der tropischen Regenwälder muss unbedingt eingestellt werden.

Sm9: Ich meine, da kann man ... Da gibt es nichts zu beweisen, ganz einfach.

L: Warum?

Sm9: Ja was soll es denn da für einen Beweis geben? Bewiesen ist, dass es eingestellt werden muss? Ich meine, das kann ja jeder anders sehen, oder?

L.: Ja, das sollst du ja gerade ...

Sm9: Das ist eher ne Meinung und keine These , ... finde ich

L.: Das ist ne Aussage, Das ist sogar ne Forderung, also noch mehr als nur ne Aussage, Und die muss erst mal begründet werden.    

....

Sm9: „Na gut!“

L: „ ... du wirst das noch schon einsehen“.

....

Sw7: „Ich hab noch mal nachgedacht, das irgendwie zu verstehen, aber ich konnte ... mir das nicht vorstellen, das als These zu sehen. Aber ich glaube einfach, ich weiß nicht, was These ist. Ich hab’s nicht verstanden ... Wenn hier alle sagen, dass wir keine These haben ...“.

Man kann die aufbrechende und nicht abebbende Diskussion als die List der Vernunft verstehen, die durch die Unvernunft des didaktischen Materials entbunden wurde. Die Schüler werden nicht auf das Rätsel angesetzt, sondern auf die Identifikation des Satztyps „These“ hin erzogen. Da sie nicht wissen, was eine solche These ist, suchen sie unter allen Sätzen mögliche Kandidaten. Dass ein Satz mit „Denn“ beginnt, disqualifiziert ihn nicht schon inhaltlich als These. Danach gibt es deutlich mehr als drei Sätze, die man so bestimmen könnte. Es dürfen aber nach der Rätsellogik nur drei sein („versteckt“ wie der Lehrer selbst betont). So muss man sich entscheiden, will man klären, was eine These ist, egal wie viele in den Beispielsätzen stecken oder will man die drei finden, die der Didaktiker als solche betrachtet und in die Sammlung eingefügt hat?

Der Lehrer kann sich nicht so recht entscheiden, welchen Weg er gehen will. Er akzeptiert den Klärungsbedarf, aber er will zugleich die Lösung der Aufgabe abrufen und sie für alle sanktionieren. Da aber die Aufgage sinnwidrig aufgebaut ist, lässt sich beides nicht zugleich erreichen. So kommt es am Ende zu einer Musterlösung, die niemanden in der Klasse sachlich überzeugt.

 

VII

Können wir zu einem Geschehen wie dem Geschilderten als Forscher Stellung beziehen, indem wir es mit allgemeinen Unterrichtskriterien vergleichend messend beurteilen? Wir haben das getan. Dann kommen beide Stunden gar nicht so schlecht weg: Die Schüler arbeiten mit, der Lehrer aktiviert und ist den Schüler zugewandt. Er zeigt Methodenvielfalt, stellt eine klare Aufgabe usf.

Würde man die Leistungen der Schüler testen, sie wären mehrheitlich in der Lage, die Fragen zum Text zu beantworten, die Sätze richtig zu sortieren. Sie zeigten also Textkompetenz.

Sobald wir aber nach dem pädagogischen Sinn des Geschehens fragen, müssen wir ungleich ernster nehmen, was sich im Unterricht vollzieht. Zu was werden die Schülerinnen und Schüler mit ihm erzogen, was wird hier wie vermittelt, und was hat das mit der Sache zu tun, die der Unterricht thematisiert. Gefordert ist mithin eine pädagogische Unterrichtsforschung. Sollte sie nicht unsere Aufgabe sein?

 

Anhang/Appendix:

 

[1] Vortrag, gehalten am 21.11.2008 auf dem internationalen Symposion des Forschungs- und Studienzentrums Pädagogik des Universiät Basel „Jenseits von Bildungsstandards und Kompetenzdiskurs? Standortbestimmungen zur Theorie und Empirie des schulischen Unterrichts“

[2] Man kann sich wie Oswald/Krappmann es in der Forschung versuchten 1995, noch sehr um genaue Erinnerungsprotokolle bemühen, sie stellen Protokolle der Erinnerung dar, nicht aber natürliche Protokolle der Praxis, über die wir heute mit den maschinengestützten Aufnahmegeräten relativ leicht verfügen können.

 

Literatur:

Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike:  Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrern; in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2006/4, S. 469-520

Benner, Dietrich: Allgemeine Pädagogik, München 1988

Blankertz, Herwig:  Theorien und Modelle der Didaktik, München 1969/75

Ders.: Geschichte der Pädagogik – von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982

Ders. (Hrsg.): Lernen und Kompetenzentwicklung in der Sekundarstufe (zwei Bände), Soest 1986

Gruschka, Andreas: Wie Schüler Erzieher werden (zwei Bände), Wetzlar 1985

Ders.: Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Wetzlar 1994

Ders.: Auf dem Weg zu einer Theorie des Unterrichtens, Frankfurt 2005/2006

Ders.: „Was ist guter Unterricht?“ –Über neue Allgemein-Modellierungen aus dem Geist der empirischen Bildungsforschung; in: Pädagogische Korrespondenz 36/2007, S.10-43

Ders.: Die Bedeutung der fachlichen Kompetenz für den Unterrichtsprozess – Ergänzende Hinweise aus der rekonstruktionslogischen Forschung; in Pädagogische Korrespondenz 38/2008b, S. 44-75

Ders.: Präsentieren als neue Unterrichtsform, Opladen 2008a

Ders.: Erkenntnis in und durch Unterricht – Über den Zusammenhang von Didaktik, Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie, Opladen 2009 (in Vorbereitung)

Helmke, Andreas: Unterrichtsqualität – erfassen, bewerten, verbessern, Seelze 2003

Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht? Berlin 2004

Osswald, Hans /Krappmann, Lothar: Alltag der Schulkinder, München 1995 

Tenorth, Heinz-Elmar: Professionalität im Lehrberuf. Ratlosigkeit der Theorie., gelingende Praxis; in. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2006/4, S. 580-598

Twardella, Johannes: Pädagogischer Pessimismus, Frankfurt 2008

PÄRDU (Pädagogische Rekonstruktion des Unterrichts) www:uni-frankfurt.de/fb/fb04/forschung/emp2.html.